Die Kunst des Einen: Was 53 Jahre Karate mir über ein ganzes Leben lehrten
Es beginnt mit einem Schritt. Einem Fauststoß. Einem Atemzug. Für die meisten ist Karate ein Hobby, ein Sport, vielleicht eine Leidenschaft. Für mich wurde es zu etwas ganz anderem: zur Landkarte meines Lebens, zur Sprache meiner Seele, zum einzigen Ort, an dem ich vollständig ich selbst bin.
Man fragt mich manchmal: „Fünf, sechs Stunden jeden Tag? Seit 53 Jahren? Was gibt einem das? Und… hat es sich gelohnt? Hast du nichts verpasst?“
Die Antwort ist komplex und einfach zugleich. Sie liegt nicht in einer Trophäe oder einem schwarzen Gürtel, sondern in etwas, das schwer in Worte zu fassen ist: das vollständige Verschmelzen mit dem, was man tut.
Die Leere und die Fülle
In den ersten Jahren trainierte ich den Körper. Die Muskeln brannten, die Techniken waren holprig, der Geist war erfüllt von Selbstzweifel und dem Drang, besser zu sein als andere. Doch mit der Zeit, mit der unendlichen Wiederholung der Kihon (Grundschule), begann sich etwas zu verschieben.
Das Denken hörte auf. Der innere Monolog verstummte. Wenn ich eine Kata übte, war ich nicht länger der Ausführende, der beobachtet wurde. Ich war die Kata. Die Bewegung und der Bewegende wurden eins. Dieser Zustand des „Mushin“ – des leeren Geistes – ist nicht etwa eine Leere der Bedeutungslosigkeit, sondern eine Fülle an purer Präsenz. In diesen Stunden gibt es keine Sorgen von gestern, keine Ängste von morgen. Es gibt nur den Schnitt der Faust durch die Luft, das Geräusch des Atems, das Gefühl des Holzbodens unter den Füßen.
Was gibt mir das? Es gibt mir absolute Klarheit. In einer Welt des Lärms und der Ablenkung ist das Dojo mein Tempel der Stille. Diese tägliche Praxis ist wie das Zurücksetzen einer Waage. Sie bringt mich immer wieder auf den Nullpunkt meines Seins zurück.
Der Preis und das Geschenk
Ja, die Frage nach dem, was ich verpasst habe, ist berechtigt. Habe ich die lockeren Abende in Kneipen vermisst? Die spontanen Urlaubsreisen? Die Karriere, die vielleicht mehr Geld oder Status gebracht hätte? Ehrlich gesagt, manchmal, in jungen Jahren, schaute ich aus dem Dojo-Fenster und sah die anderen lachen und gehen. Es gab einen leisen, neidischen Widerhall in mir.
Doch mit der Zeit erkannte ich: Ich habe nichts verpasst, ich habe etwas anderes gewählt.
Ich wählte die Tiefe über die Breite.
Ich wählte Meisterschaft über Vielfalt.
Ich wählte die Einsamkeit des Weges, um niemals wirklich allein zu sein.
Während andere das Leben in seiner horizontalen Vielfalt genossen – viele verschiedene Erfahrungen sammelten –, entschied ich mich dafür, es in die Tiefe zu erforschen. Ich grub einen Brunnen, anstatt viele kleine Löcher zu graben. Und aus diesem Brunnen schöpfe ich heute ein Wasser, das mich nährt und erfrischt, wie nichts anderes es könnte.
Ich „genoss“ nicht im herkömmlichen Sinne. Ich erlebte etwas viel Intensiveres: ich erfüllte mich. Die Freude, nach Jahren endlich eine Bewegung zu verstehen, die nicht nur im Körper, sondern auch im Geist ankommt, ist größer als jeder kurzfristige Rausch. Die Gemeinschaft im Dojo, die auf gemeinsamem Schweiß und Respekt basiert, ist tiefer als so manche oberflächliche Freundschaft.
Das Echo im Alltag
Diese Hingabe formt einen Menschen. Sie lehrte mich Disziplin, die nicht erzwungen, sondern geliebt wird. Sie lehrte mich Geduld – mit mir selbst und mit anderen. Sie zeigte mir, dass wahre Stärke nicht darin liegt, andere zu besiegen, sondern darin, die eigenen Grenzen immer wieder zu erkennen und sanft zu erweitern.
Die Konzentration, die ich im Dojo entwickelte, floss in jede meiner Tätigkeiten. Die Achtsamkeit, die ich für meinen Körper lernte, machte mich achtsamer im Umgang mit meinen Mitmenschen. Karate war nie nur eine Kampfkunst; es war eine Lebenskunst.
Habe ich etwas verpasst? Vielleicht. Aber ich habe etwas unendlich Wertvolleres gefunden: mich selbst.
Am Ende ist es nicht die Frage, ob man fünf Stunden am Tag Karate trainiert oder fünf Stunden am Tag Geige übt, ein Handwerk meistert oder die Natur erforscht. Die Frage ist: Kannst du in einer Sache so ganz aufgehen, dass du darin die ganze Welt findest?
Für mich war die Antwort ein stummer, jahrzehntelanger Schrei der Seele, der in der Leere der Trainingshalle widerhallte und als vollkommene Stille zu mir zurückkehrte. Es war die Mühe wert. Es ist es immer noch. Jeden Tag!
© Beitrag von Rolf Oppenberg


