Die stille Kraft

Ich habe mein Leben dem Karate-Do / Budo verschrieben und das seit nunmehr 50 Jahren. Obwohl mich die dynamischen Bewegungen und das tiefe Ergründen dessen, was unsere Vorfahren entwickelt haben fasziniert, ist es das Geheimnisvolle in diesem Kampfsport das mich fesselt. Unsere Vorfahren und Gründer des Karate haben uns eine «Zeitkapsel» hinterlassen, die es zu erforschen gilt.
Aber was mich noch mehr beeindruckt, ist die Stille in den Handlungen und Bewegungen. In dieser Stille sehe ich die Magie des Karate. Wenn ich am Makiwara trainiere, sind die Zukis «still». Erst beim Einschlag auf das Makiwara entfalteten sie ihre tödliche Kraft. So ist es auch bei allen anderen Techniken, sofern diese korrekt ausgeführt werden. Dies allein ist schon eine hohe Kunst.
Aber was ist es, das  mich so magisch anzieht?
Es ist das unbeschwerte, losgelöste Sein von allem – nur der Raum, das Makiwara und ich. Es macht mich glücklich und zeigt mir auf, dass es zum glücklich und zufrieden sein nicht viel braucht. Keinen Luxus, keine Statussymbole usw.

In diese «Stille» zu horchen und sich selber fühlen. Eine Gelassenheit zu empfinden die sich völlig unbeschwert anfühlt. Das ist die Magie des Karate.
In dieser Magie fühle ich mich stark und unverletzlich, aber auch bestätigt in dem was ich lebe. Den Weg des Karate-Do/Budo.

Es scheint, dass in der heutigen Gesellschaft alles auf das rein Empirische reduziert wird. «Funktioniert es auf der Strasse oder im Ring?» usw.
Ich kann hier nur sagen, es wird immer einen Stärkeren geben und an dieser Stelle –  (ein Kampf ist immer und in jedem Fall die schlechteste Wahl von vielen Optionen).

Aber ich würde sagen, dass die «Stille», welche ich in meinen eigenen Trainingseinheiten erlebe, auch im Leben funktioniert.
Auch dort lebt die Magie, das Geheimnisvolle und die Romantik.

Ich denke, als Kultur haben wir uns von dieser ehrfurchtgebietenden menschlichen Herangehensweise entfernt. Ohne sie gibt es nur die Spaltung durch «dieses oder jenes», was einen Mangel an Verbindungen aufzeigt.

Das freie Sein, frei sein von jeglichem Luxus, von Statussymbolen, Ansehen usw., das ist für mich wirklicher Luxus und ermöglicht genau das, dass man die «Stille» erkennen, fühlen, sehen, geniessen und leben kann.
Eins sein mit dem was man liebt und tut, das ist die innere Stille. Ich behaupte aber auch, dass es nur möglich ist diese «Stille» zu erleben, wenn man sich im dritten bzw. letzten Lebensabschnitt befindet, Dann, wenn die wilden Jahre vorbei sind und genug Erfahrung gesammelt wurde.

Ich frage mich, wie die Welt wohl aussehen würde, wie unsere Politik  und wie würde das aussehen was wir lieben, wenn wir den Weg zurück in diese «Stille» finden könnten.

Was wäre, wenn die Menschen diese «Stille» erkennen würden?

    • Gäbe es noch das Übermass an Agressionen?
    • Gäbe es noch das Übermass an materieller Gier?
    • Gäbe es noch das Übermass an Machtstreben?
    • Gäbe es noch…

Die Welt und Gesellschaft sind überaus herausfordernd und unberechenbar. Umso wichtiger wird es, die Magie der Stille zu finden.

Anmerkung: Bitte verwechsle dies nicht mit der emotionaler Macht! Denn jene ist auch still, aber die Gefährlichste von allen!


© Beitrag von Rolf Oppenberg